Das Ende der Legenden
Von Wolfgang Strauss

Alexander Solschenizyn, 200 Jahre zusammen. Die russisch-jüdische Geschichte 1795-1916, Herbig, München, 560 S., EUR 29,90

Dwesti ljet wmestje. Tschast II [Zweihundert Jahre zusammen. Teil II], Russki Putj, Moskau, Dezember 2002, 560 Seiten, 17,50 EUR, ISBN 5-85887-151-8.

Zunächst und ohne Umschweife: Alexander Solschenizyns 200 Jahre zusammen. Die russisch-jüdische Geschichte 1795-1916 ist das Buch des Jahres. Nach diesem Solschenizyn wird die Geschichte des bolschewistischen Oktoberputsches zwar nicht neu, doch mit wesentlichen Ergänzungen geschrieben werden müssen. Das Ende der Legende: so könnte der Buchtitel auch lauten. Zum Beispiel die Legende von einer eigenständigen, von Anfang an "russischen" Sozialdemokratie. Gegründet 1898 in Minsk, ging die »Russische Sozialdemokratische Arbeiterpartei« (RSDRP) aus dem »Allgemeinen jüdischen Arbeiterbund in Litauen, Polen und Rußland« hervor, personell wie organisatorisch. Bei der Geburt der russischen Sozialdemokratie leistete der jüdische Arbeiterbund Hebammendienste.

Legenden ohne Zahl. »In diesem Buch kommen jüdische Stimmen viel mehr zu Wort als russische«, betont Solschenizyn. Und das ist keine Legende: Jüdische Stimmen, nicht russische Stimmen, sprechen von einer jüdischen Dominanz in den antimonarchistischen Bewegungen im Rußland der Vorkriegszeit. In den Neuen Jüdischen Monatsheften (Berlin) stand am 10. Dezember 1919 im Artikel »Der jüdische Revolutionär« der Satz:

»So maßlos er von antisemitischer Seite übertrieben, und so ängstlich er vom jüdischen Bürgertum geleugnet wird: der große jüdische Anteil an der heutigen revolutionären Bewegung steht fest.«

Entschieden, ja geradezu leidenschaftlich wehrt sich der Schriftsteller, den die jüdische Publizistin Sonja Margolina einen "Patriarchen" in den Nachfolge Dostojewskijs, den »letzten russischen Propheten« nennt, gegen Kollektivschuldthesen. Weder die Russen noch die Juden könnten für die Heraufkunft der Schreckensherrschaft alleinschuldig gesprochen werden, urteilt der GULag-Chronist. Als »glühenden Keil« bezeichnet er das Verhältnis zwischen Russen und Juden. In seinem Buch bemühe er sich, den Keil von beiden Seiten zu beleuchten. Dazu gehöre die Auflösung der Legenden. Die vielleicht zählebigste lautet: Lange vor dem Thronverzicht des letzten Zaren sei das alte Russische Reich in den Untergang, die Revolution geschlittert, die Apokalypsen des Jahres 1917 – Februar und Oktober – seien unabwendbar gewesen, quasi von einem Weltgericht determiniert. Nur eine Legende, sagt Solschenizyn, und dieses Buchkapitel, ein Noir-Thriller, beleuchtet den 18. September 1911. Ein Tag, der das Nahen des Großen Terrors erhellte, indem er die letzten Rettungschancen verdunkelte.

Acht Mal hatte man versucht, Pjotr Stolypin zu ermorden, unterschiedliche Terroristengruppen hatten auf ihn und seine Familie Attentate verübt, und nie war es ihnen geglückt, den Mann, der dem Vorkriegsjahrzehnt seine Richtung, seine Ausstrahlung und seinen Namen gab, zu töten. Der "russische Bismarck" (so nannte man ihn auch) hatte als unpathetischer Christ und selbstbewußter erster Diener des Russischen Reiches sein Land in die moderne Zeit geführt, indem er eine Landstände-Selbstverwaltung und eine Agrarreform durchsetzte, die aus rückständigen Dorfbewohnern unternehmensfreudige Einzelbauern machte. Das achte Attentat, am 18. September 1911 in der Kiewer Oper, beendete das Leben des Staatsreformators Stolypin, der seinem Land als Innenminister und als Ministerpräsident gedient hatte. Neunzig Jahre später schreibt Solschenizyn:

»Der erste russische Premierminister, der sich ehrlich die Aufgabe der jüdischen Gleichberechtigung gestellt und sich gegen den Zaren an ihre Erfüllung gemacht hatte, starb – ist es Hohn der Geschichte? – durch die Hand eines Juden.« (S. 431)

Der Attentäter hieß Mordko Herschowitsch Bogrow, Student, Enkel eines Branntweinpächters und Sohn eines Millionärs. Als er seinen Browning auf Stolypin abfeuerte, war er 23 Jahre alt. Mit diesen Schüssen wurde der Prozeß der russischen Wiedergesundung aus eigener Kraft, wozu auch Stolypins Maßnahmen zur Aufhebung der antijüdischen Beschränkungen gehörte, zu einem jähen, verhängnisvollen Ende gebracht. Zu den Folgen des 18. September zählte eine Veränderung der Weltpolitik, kämpfte doch Stolypin gegen eine deutschfeindliche Außenpolitik an der Seite Frankreichs und Englands. Unter Stolypin wäre Rußland »nicht in diesen Krieg« eingetreten, behauptet Solschenizyn. Die Schlußfolgerung: Dem russischen Volk wäre die Februarrevolution – eine Folge der Niederlagen im Ersten Weltkrieg – erspart geblieben.

Ob Bogrow als Einzelgänger oder als Gruppenmitglied des bolschewistischen, menschewistischen oder anarchistischen Untergrunds geschossen hat, bleibt offen, auch Solschenizyn läßt die Frage unbeantwortet. Doch an einem zweifelt der Historiker nicht: Mordko Herschowitsch war Agent der Ochrana, ein Spitzel im Solde der zaristischen Geheimpolizei. In August vierzehn, im ersten Band des Roman-Zyklus Das Rote Rad, sind der "jüdischen Frage" (russisch jewreiski wopros) 233 Seiten gewidmet, durch eine teils dokumentarische, teils literarische Darstellung von Person und Wirken Stolypins. Darin auch eine Charakterisierung des Attentäters und das Psychogramm der entscheidenden Motive Bogrows:

»Stolypin hatte nie gegen die Juden irgend etwas direkt unternommen, er hatte ihnen sogar einige Vergünstigungen gewährt, aber das alles kam ihm nicht von Herzen. Ein Feind der Juden muß durchschaut und nicht nur nach seinem Äußeren beurteilt werden. Dieser [Stolypin] sprach viel zu aufdringlich, viel zu unverblümt, ja herausfordernd über die r u s s i s c h e n internationalen Interessen, über die russische Präsenz in der Duma, über den russischen Staat. Er baute nicht ein allgemeines freies Land auf, sondern eine nationale Monarchie. Die jüdische Zukunft in Russland wurde also nicht von einem ihnen wohlgesinnten Entschluß bestimmt, und Stolypins Wirken verhieß den Juden keine goldene Zeit. Bogrow konnte sich der Revolution anschließen oder nicht. Er konnte den Maximalisten oder den Anarcho-Kommunisten angehören, er konnte überhaupt keinem angehören, er konnte die Parteiideologie wechseln, er konnte sich selbst verändern, aber eines stand für ihn außerhalb aller Zweifel: Es galt, für ein unwahrscheinlich begabtes Volk in diesem Land sämtliche Möglichkeiten einer ungehinderten Entwicklung zu erkämpfen.« (S. 592 in August vierzehn)

Wegen dieser Passage, ganze 15 Druckzeilen, ist der Autor dieses 1983 erschienenen Buches des Antisemitismus bezichtigt worden (nicht von russischer Seite, vielmehr in amerikanischen Zeitschriften), ist doch mit dem unwahrscheinlich begabten Volk das jüdische gemeint.

Nach den Mordschüssen von Kiew zerrissen drei Jahre später die Schüsse von Sarajewo die europäische Bürgerruhe. Kiew und Sarajewo gehören als Wendepunkte der Menschheitsgeschichte zusammen. Die Schilderung des Stolypin-Attentäters gehört zu den Höhepunkten im jüngsten Solschenizyn, der bislang kein positives Echo ausgelöst hat in (west)deutschen Medien – was nicht anders zu erwarten war. Ohnehin ist das Frankfurter, Münchner, Hamburger, Berliner Feuilleton als Würstchengrill des Hedonismus die denkbar ungeeignetste Rezeption für ethische, ästhetische Asketen wie Solschenizyn. So nennt denn auch Gerd Koenen in der WELT den großen Russen einen »moralischen Übervater«, den zu lesen allerdings eine »intellektuelle Zumutung« bedeuten würde. Immerhin attestiert Koenen dem Russen »patriarchale Strenge« mit einem Ton, der keineswegs anklagend oder hetzerisch sei, sondern »betont versöhnlich« (12. Oktober 2002). Daß ausgerechnet Sonja Margolina, Tochter eines jüdisch-kommunistischen Trotzkisten, zu dem sie sich heute voll Stolz bekennt – daß ausgerechnet diese rote Nostalgikerin dem aufklärerischen Geist Solschenizyn »Rückwärtsgewandtheit« vorwirft, darf als Witz einer virtuellen Feuilletonwelt belächelt werden (SZ 15. Oktober 2002). Jeder Wahrheit wohnt ein Zeitkern inne. Die Wahrheit über die "Oktoberrevolution", an deren Vorbereitung und Durchführung die Bogrows, Bronstein, Mandelstam, Auerbach, Rosenfeld, Brillant, Apfelbaum wesentlichen Anteil hatten, bricht sich Bahn zehn Jahre nach dem Ende des gescheiterten Experiments "Kommunismus".

Die schmutzige Revolution I

Wenn es stimmt, daß der Bolschewismus nicht wirklich durch die Planwirtschaft auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet ist, nicht an der Abwesenheit von Demokratie zugrunde gegangen ist, bleibt die Frage übrig, wann und durch wen die Weichenstellung in den Untergang erfolgt ist. Alexander Solschenizyn, laut Spann-Schüler Friedrich Romig der »größte konservative Schriftsteller unserer Zeit«, nennt 1918 als Geburtsjahr des krassni terreur, des Roten Terrors.

»Die Bourgeoisie kann einige Personen töten, wir aber bringen ganze Klassen um.«

Ein Terrorist namens Apfelbaum verkündete 1918 das Todesurteil. In jenem Jahr erblickte die nichtkommunistische Intelligenzija das Haupt der Medusa. In die Glutöfen des Klassenvernichtungskrieges wollte Apfelbaum (in die Geschichte eingegangen als "Sinowjew") zehn Millionen Russen schicken, zehn von hundert. Ernst Nolte meint, die Äußerung vom 17. September 1918 klinge in ihrer Ungeheuerlichkeit fast unglaubwürdig; dieser Apfelbaum formulierte das Verbrennungsurteil:

»Von den hundert Millionen der Bevölkerung in Sowjetrußland müssen wir neunzig für uns gewinnen. Mit den übrigen haben wir nicht zu reden, wir müssen sie ausrotten.«

In seinem jüngsten Buch Dwesti ljet wmestje. Tschast II. (Zweihundert Jahre zusammen. Teil II) spricht Solschenizyn von den »duschiteli Rossii« (Würgern Rußlands), den »palatschi grasnoi revoljuzii« (Henkern der schmutzigen Revolution). Wer exakt ist gemeint? Auf Seite 89 heißt es: »Bolschewiki jewrej«. Deutsch: »Bolschewiken-Juden«. An anderer Stelle gebraucht Solschenizyn den Terminus »bolschewistische Juden«. Übergeordnet dem allen ein Schlüsselbegriff: »Jewrejski wopros«. Die »jüdische Frage«. Diesen Begriff verbot die kommunistische Zensur nach 1918 keineswegs, auch für »Bolschewiken-Juden« war die jüdische Frage kein Tabu, ganz im Gegenteil, bildete doch die jüdische Frage ein Zentralthema der zur säkularen Religion gewordenen Parteiideologie. Lenin lieferte ein Beispiel; 1924 erschien im Moskauer Verlag Proletarii Lenins berühmte Lehrschrift Über die jüdische Frage in Rußland (von Solschenizyn auf S. 79 zitiert).

Nach diesem Solschenizyn muß die Geschichte des 20. Jahrhunderts, im besonderen die der Sowjetunion, neu geschrieben werden, vor allem hinsichtlich des Zusammenbruchs der großen ideologischen Fronten in den prä-revisionistischen Epochen. Das Neue in diesem Solschenizyn ist die Demonstration eines vom (west)deutschen Historiker-Establishment totgeschwiegenen Phänomens. Die historisch beispiellose Grausamkeit der Machtergreifung, des Bürgerkrieges und des Kriegskommunismus hatte eine klar zu definierende Wurzel, im Ideologischen und Anthropologischen. Das Codewort lautet bei Solschenizyn, wie bereits erwähnt, »Bolschewiki-Jewrej«.

»Bis zum Oktoberumsturz bildete der Bolschewismus nicht die zahlenmäßig stärkste Strömung unter den Juden«, liest man auf S. 73. Solschenizyn erinnert: Unmittelbar vor dem Umsturz haben die bolschewistischen Juden Trotzki und Kamenjew das militärische Bündnis mit drei jüdischen Linken Sozialrevolutionären geschlossen – Natanson, Steinberg, Kamkow. Solschenizyn will damit sagen, daß Lenins Oktoberputsch, rein militärisch betrachtet, an einem jüdischen Faden hing. Das Zustandekommen des Kampfbündnisses zwischen Trotzki und seinen Landsleuten in der Partei der Linken Sozialrevolutionäre sicherte Lenin den Sieg in der Palastrevolte vom Oktober 1917. Als Kronzeugen zitiert Solschenizyn den israelischen Historiker Aron Abramowitsch. Dieser schreibt in einem 1982 in Tel Aviv erschienenen Werk:

»Eine schlachtentscheidende Rolle spielte das jüdische Soldatenkontingent bei Vorbereitung und Durchführung des bewaffneten bolschewistischen Aufstandes in Petrograd und anderen Städten während des Oktober 1917 wie auch in den folgenden Schlachten im Zuge der Niederschlagung von Rebellionen gegen die neue sowjetische Macht.«

Die berühmten lettischen Schützenregimenter der 12. Armee, Lenins Prätorianer, bekamen einen jüdischen Chefkommissar, Nachimson.

Es gibt Verbrechen, die die Nachkommen der Opfer nicht aushalten können. Verbrechen sind das, die den letzten Schutzraum durchbrechen – Verbrechen wie Psychozid an einem Kulturvolk. Die Mehrheit der Kulturrussen empfand im Oktober das Einbrechen eines zerstörerischen Umgestaltungs-Prinzips. "Oktober", ein Synonym für tödliche Daseinsbedrohung. 1924 notiert der jüdische Historiker Pasmanik:

»Das Erscheinen des Bolschewismus war das Resultat von Besonderheiten in der russischen Geschichte, jedoch die Organisierung des Bolschewismus verdankt Sowjetrußland der Arbeit der jüdischen Kommissare.«

Solschenizyn zitiert den Schlüsselsatz auf Seite 80, wobei »Organisierung« im Buchtext gesperrt ist.

Erstaunlich die Fülle von Augenzeugenberichten aus der frühsowjetischen Zeit. Der Schriftsteiler Naschiwin beobachtet im think-tank des Rates der Volkskommissare (d. h. der Regierung) »Juden, Juden, Juden«. Er sei niemals Antisemit gewesen, beteuert Naschiwin, doch im Kreml »schnitt die geballte Masse der Juden buchstäblich die Augen«. Der berühmte Erzähler Wladimir Korolenko, der Sozialdemokratie nahestehend und ein Ankläger der Judenpogrome im zaristischen Rußland, schreibt 1919 ins Tagebuch:

»Bei den Bolschewiki gibt es sehr viele Juden und Jüdinnen. Ihr Hauptcharakteristikum: das Rechthaberische, die aggressive Taktlosigkeit und Anmaßung, die schmerzhaft in die Augen springen. In der Ukraine trifft der Bolschewismus auf Verachtung. Das Überhandnehmen jüdischer Physiognomien, besonders bei der Tscheka, entfacht im Volk äußerst vitale Instinkte eines Judenhasses.«

»Das ist wirklich kein neues Thema: die Juden bei den Bolschewiki, darüber ist schon viel geschrieben worden«, beginnt Kapitel 15, in welchem Solschenizyn der Nachweis seiner Kardinalthese gelingt, nämlich die von der machtbildenden Unentbehrlichkeit der bolschewistischen Juden im siegreichen Bolschewismus, im Bürgerkrieg, im frühen Sowjetregime.

»Wer die Meinung vertritt, die Revolution sei nicht eine russische, sondern die der Fremden gewesen, verweist auf jiddische Familiennamen oder Pseudonyme, um dadurch von den Russen die Schuld an der Revolution zu nehmen. Andere wiederum – bestrebt, die überproportionale Beteiligung der Juden an der bolschewistischen Machtergreifung abzustreiten – behaupten, es habe sich bei diesen nicht um gläubige Juden (jewrej po duchu) gehandelt, sondern um Abtrünnige, Renegaten, Gottlose (otschtschepenzi).«

Nach rabbinischem Gesetz ist Jude, wer von einer jüdischen Mutter geboren ist. Das orthodoxe Judentum verlangt aber mehr: die Anerkennung des hebräischen Regelbuches Halacha und die Befolgung der Religionsgesetze aus der Mischna, die ja die Grundlage des Talmuds bildet. Davon ausgehend fragt Solschenizyn: Wie stark waren Einfluß, Macht, Faszination und Gefolgschaft der säkularen Juden in der jüdisch-gläubigen Bevölkerung? Und:

»Wie viele der Gottlosen waren bei den Bolschewiki aktiv? Kann sich ein Volk von seinen Abtrünnigen überhaupt lossagen, gibt solch eine Lossagung Sinn?«

Solschenizyns Versuch, diese Frage anhand historischer Fakten zu beantworten, weist mehrere Schwerpunkte auf: Das Verhalten der orthodoxen Juden nach dem Oktober; Zahlenverhältnisse der bolschewistischen Juden vor und nach dem Oktober; Vormarsch der bolschewistischen Juden in die Kader von Roter Armee und Tscheka; Lenins Judenstrategie, schließlich Lenins Herkunft.

»Kaum an die Macht gelangt, appellierten die Bolschewiki an die Juden. Und sie kamen, kamen in Massen. Die einen dienten in der Exekutive, die anderen in Regierungsorganen. Sie kamen, vor allem aus den Schichten säkularisierter junger Juden, die keineswegs als Gottlose oder gar Gottesfeinde einzustufen waren. Dieses Phänomen trug Massencharakter.« (S. 79)

Lenin hatte noch nicht den Smolny verlassen, Ende 1917, da arbeitete bereits in Petrograd ein »Jüdisches Kommissariat für Nationalitätenfragen«. Im März 1919 beschäftigte sich der VIII. Parteikongreß der Russischen Kommunistischen Partei (Bolschewiki) mit dem Antrag, einen »Jüdischen Kommunistischen Bund Sowjetrußlands« zu etablieren.

Auch bei diesem Phänomen kann sich Solschenizyn auf Urteile jüdischer Historiker stützen. »Tausende von Juden strömten zu den Bolschewiken, in denen sie Beschützer der internationalistischen Revolution sahen«, schreibt 1961 der in England lebende Leonard Schapiro. M. Chaifez kommentiert die jüdische Förderung des Bolschewismus so:

»Für einen Juden, der weder von Aristokraten noch Popen abstammte, bedeutet der Bolschewismus eine erfolgversprechende Perspektive, einem neuen Clan anzugehören.«

Der Chaifez-Artikel erschien 1980 in einer israelischen Zeitschrift für die jüdische Intelligenz aus der UdSSR.

Der Zustrom der jüdischen Jugend in die bolschewistische Partei habe erst als Folge von Pogromen auf dem Territorium der Weißen Armeen 1919 eingesetzt, behauptet der Lenin-Biograph David Schub, ein jüdischer Menschewik. Dem widerspricht Solschenizyn: das sei ein Mythos.

»Schubs Argument ist deshalb nicht stichhaltig, weil der Masseneintritt von Juden in den Sowjetapparat bereits 1917 einsetzte und das ganze Jahr 1918 andauerte. Doch zweifellos verstärkte die Bürgerkriegssituation von 1919 das Verschmelzen jüdischer Kader mit den Bolschewiki.« (S. 80)

Die Steigerung von Judophobie führt Solschenizyn zurück unter anderem auf die Niederschlagung von Bauern- und Bürgeraufständen, die Abmetzelung von Popen und Bischöfen, insbesondere der Dorfgeistlichen, schließlich die Ausrottung des Adels mit dem Höhepunkt "Zarenmord".

In den Entscheidungsjahren der Bürgerkriegsepoche 1918-1920 befand sich die Geheimpolizei (Solschenizyn benutzt die damals gebräuchliche Abkürzung WTschK, daraus abgeleitet "Tscheka") in der Hand bolschewistischer Juden (»Gefängniskommandanten waren gewöhnlich Polen oder Letten«).

In Odessa saßen in den Leitungsgremien von Partei, Armee, Tscheka ausschließlich Juden. Juden bildeten die Mehrheit des Präsidiums des Petrograder Stadtsowjets. Den Bürgerkriegsterror in Nischni Nowgorod dirigierte Lasar Kaganowitsch, die Massenerschießungen auf der Krim leitete Rosalia Salkind-Semljatschka. 1920 verwandelten sich die Bauerngebiete Westsibiriens in eine Vendée, nachdem Getreide-Kommissar Indenbaum durch Konfiskationsfeldzüge eine Hungersnot heraufbeschworen hatte. Im Steppenwinter wurden rebellische Bauern gezwungen, ihre eigenen Gräber auszuheben; Tschekisten übergossen die Nackten mit Wasser, Maschinengewehre mähten Flüchtende nieder. In die Geschichte eingegangen ist der Bauernaufstand von Tjumen als »Ischimski Mjatjesch«.

Die Massenhinrichtungen von Priestern der Russisch-Orthodoxen Kirche trug Genozidcharakter, bezogen auf die Zahl der Liquidierten, die Radikalität der Henker und die Motive der Täter. Abgeschlachtet wurde die intellektuelle Elite des Ostchristentums in Rußland. Den Anstoß gab Lenin. Am 27. Juli 1918, kurz nach der Ermordung der Zarenfamilie, erließ das SNK (Sowjetregierung) ein Liquidierungsgesetz gegen »Pogromtschiki«, und als Pogromist galt obligatorisch jeder Priester. Den Gesetzestext entwarf eigenhändig Lenin – so die Erinnerung von Lunatscharskij –, und Lenin ordnete an, die Geistlichen außerhalb von Gericht und Gesetzlichkeit zu bestrafen (»wne sakon«). Das heißt, so Solschenizyns Kommentar: »Rasstreliwatj«, erschießen.

Lenin am 17. Juli 1918 – Einlaß der Dämonen. Lenin, schon er, und nicht erst Stalin. Daß die Entscheidung für den Mord an jenem 17. Juli mit der Herkunft Lenins zusammenhängen kann, untersucht Solschenizyn auf Seite 15. Der von Lenin befehligte Apparat von Partei, Tscheka, Armee kennzeichnet eine Ideologie der Menschenvernichtung in Aktion im frühen bolschewistischen System (Ernst Nolte spricht von einem »ideologischen Vernichtungspostulat«). »Der Schlüssel der Entscheidung lag in den Händen Lenins«, konstatiert Solschenizyn im Kapitel über die Bartholomäusnacht in Jekaterinburg. Für Lenin gab es in dieser Frage weder Kompromisse noch Zweifel: »Vernichten – darin hat er niemals geschwankt.« Unitschoschitj – vernichten. Für die Vernichtung waren Swerdlow, Dscherschinski, Trotzki im Juli achtzehn die Mächtigsten neben Lenin. Keiner von ihnen ein Russe. Nichtrussen Lenins Erfüllungsgehilfen in Jekaterinburg, den Ural-Gouvernements. Henker und Henkersknechte. Goloschekin und Bjeloborodow (»Weißbart«), Parteiterroristen, Killer der roten Uralmafia, deren blutige Karriere auf Seite 90f. geschildert wird. Dann Jankel Jurowski, der sich rühmte:

»Aus meinem Trommelrevolver wurde Nikolaus auf der Stelle abgeknallt.«

1936 knallten Stalins Tschekisten den Zarenmörder Bjeloborodow in der Lubjanka ab, war er doch als Jude, als Internationalist, als Kosmopolit ein Feind des Russifizierers Stalin. Was auch Goloschekin den Tod brachte, im Herbst einundvierzig, da hielten deutsche Panzer schon an Moskaus Stadtgrenze.

Rußland, ein Land der Täter? Solschenizyn verneint es, wie er überhaupt vor jeglicher Kollektivverurteilung zurückschreckt, und das Nein bezieht er auf das Große Volk und auf das Kleine Volk. Und die Opfer? In der großen Mehrheit – Russen. Die in Kellern Erschossenen, in Klöstern Verbrannten, in Flußkähnen Ertränkten, in Wäldern Erhängten; Offiziere, Bauern, Aristokraten, Proletarier, der anti-antisemitische bürgerliche Geistesadel, Russen (aber nicht nur Russen). Die "Henker der Revolution", ihre Verbrechen mit einem Internationalismus rechtfertigend, verwandelten ihre "schmutzige Revolution" in eine, so Solschenizyn wörtlich, »antislawjanskaja«, was antislawische heißt. Nein, betont der Literaturnobelpreisträger auf Seite 93, das Tätervolk mit den holocaustischen Orientierungsmarken Tscheka-Lubjanka-GULag konnte kein slawisches Volk gewesen sein.

Im Kausalen Nexus Noltes steht auf Seite 233 eine vorweggenommene Bestätigung der Solschenizynschen Thesen. Er sei überzeugt, so der deutsche Historiker, daß der Begriff des »jüdischen Bolschewismus« nicht bloß eine bösartige Erfindung zu politischen Zwecken darstelle, sondern daß er geschichtlich zu gut begründet sei, um nicht von der Wissenschaft ausgeschlossen zu werden, »wie grauenhaft die nationalsozialistische Konsequenz auch gewesen ist«. Hier zieht Nolte die Parallele zum anderen, das heißt konträren ideologischen Vernichtungspostulat:

»Nur wenn er nicht mehr von vornherein ausgestoßen und tabuisiert wird, kann "Auschwitz" der eigentlichen Gefahr entgehen, die ihm heute droht: daß er durch die Isolierung vom "Gulag" und von der kriegerischen Auseinandersetzung der beiden großen Ideologiestaaten des 20. Jahrhunderts zwar nicht zur Lüge, wohl aber zum wissenschaftswidrigen Mythos wird.«

Ist Solschenizyn der erste Historiker, der das finstere Jahr 1918 wissenschaftlich durchleuchtet? Über »die Greueltaten der Bolschewiki und den Anteil, den Juden daran hatten« schrieb vor einem Jahrzehnt die russische Jüdin Sonja Margolina, Tochter eines Bolschewiken der Lenin-/Stalin-Epoche. Die Schrecken von Revolution und Bürgerkrieg seien »fest mit der Gestalt des jüdischen Kommissars verbunden«, heißt es in Margolinas Buch Das Ende der Lügen, erschienen 1992 im Berliner Siedler Verlag. Das Werk trug den damals schockierenden Untertitel Die russischen Juden – Täter und Opfer zugleich. Im Kapitel »Juden und die Macht« (gemeint die Sowjetmacht) stehen Sätze, deren Wahrheitsgehalt von Solschenizyn heute bestätigt wird. »Die Bolschewiki und die an ihrer Seite stehenden Juden regierten Rußland in den ersten Jahren nach der Revolution mit Angstschweiß auf der Stirn«, schreibt die Margolina. Der Rote Terror sei eine »Flucht nach vorne« gewesen. Den Akteuren sei eines klar gewesen: wenn die rote Schlinge um den Hals des Volkes gelockert würde, würden die jüdischen Bolschewiken »die ersten Kandidaten fürs Schafott« sein.

Wo war Gott in der Lubjanka? In Kolyma? Am Weißmeerkanal? Alexander Solschenizyn, im Sinne der Dostojewskijschen Gottsucher ein homo religiosus, stellt diese Frage nicht. Ihn quält ein "Warum". Warum wurden, um mit der Jüdin Sonja Margolina zu sprechen, die russischen Juden Täter und Opfer zugleich im bolschewistischen Jahrhundert? Der 84jährige, zu Beginn des dritten Jahrtausends das öffentliche Gewissen der russischen Kultur, kennt das erste Gebot des Historischen Revisionismus in einem von politischer Korrektheit unbefleckten Rußland: Souverän ist, wer die Brandmauer rund um »jewrejski wopros« durchstößt.

Die schmutzige Revolution II

»Jeder lauscht ständig, ob die Deutschen nicht schon kommen.«

Die da auf das Vordringen deutscher Truppen warten, sind im Juni, Juli einundvierzig Hunderttausende in den von der Roten Armee besetzten Gebieten Ostpolens. Polnische Bauern, Bürger, Priester, Ex-Soldaten, Intellektuelle. Das Eingangszitat stammt vom polnisch-jüdischen Historiker J.T. Gross, Autor des Buches Nachbarn. Der Mord an den Juden von Jedwabne. Warum im osteuropäischen Sturmjahr 1941 Polen, Litauer, Letten, Ukrainer, Esten, Weißrussen, Bukowina- und Moldau-Rumänen den Einmarsch der Deutschen Wehrmacht kaum erwarten konnten, beantwortet Alexander Solschenizyn im zweiten Teil seines zeitgeschichtlichen Schlüsselwerkes Zweihundert Jahre zusammen.

Über die Begründung seiner Zentralthese hinaus – ohne den überproportional hohen jüdischen Anteil am Leitungs- und Exekutionspersonal der bolschewistischen Diktatur wäre Lenins junger Sowjetstaat spätestens beim Kronstädter Matrosenaufstand 1921 am Ende gewesen – untersucht Solschenizyn spezifische schlachtentscheidende Fragenkomplexe:

  1. Warum kollaborierte 1939 – 41 ein sehr großer Teil des Judentums in Ostpolen, Galizien und im Baltikum mit der Roten Armee und Stalins Geheimpolizei, mit dem Bolschewismus generell?
  2. Wieso standen die Pogrome in diesen Gebieten unter der Losung "Rache für die sowjetische Besetzung"?

Solschenizyn schreibt:

»In Ostpolen, im September 1939 der Sowjetunion einverleibt, begrüßten die Juden, vor allem ihre junge Generation, die einmarschierende Rote Armee mit frenetischem Jubel. Ob in Polen, Bessarabien, Litauen oder in der Bukowina, die Juden wurden zur Hauptstütze der Sowjetmacht, die Zeitzeugen berichten: mit allen Kräften unterstützten Juden die Etablierung der kommunistischen Herrschaft.« (S. 329)

In jenem Unheilsjahr prophezeite ein nach Frankreich emigrierter polnischer Jude einen vernichtenden Vergeltungskrieg der vom Bolschewismus unterworfenen Nichtjuden. 1939 warnte Stanislav Ivanowicz, ein mit der UdSSR sympathisierender Linkssozialist:

»Sollte die Diktatur der Bolschewiki zu Ende gehen, wird ihr Zusammenbruch im Zeichen barbarisch-archaischer Leidenschaften des Judenhasses und der Gewaltakte stehen. Der Sturz der Sowjetmacht würde für die Judenheit eine grausame Katastrophe zur Folge haben, wird doch heute schon die Sowjetherrschaft mit Judophilie gleichgesetzt.«

Solschenizyn zitiert die Vorhersage auf Seite 310.

Antisemiten auf der Stelle erschiessen

Der dritte Fragenkomplex lautet: Wieso entstand ausgerechnet in der siegreichen russischen Arbeiterklasse nach 1918 ein nicht nur untergründiger, sondern offen aggressiver, sogar in der Parteibasis sich ausbreitender Antisemitismus in der Form von Judenhaß?

Obgleich Lenin am 27. Juli 1918 per Ukas anordnete, »aktive Antisemiten« ohne Gerichtsverfahren zu erschießen, grassierte Mitte der zwanziger Jahre in Lenins Staat ein neuartiger, extrem militanter Antisemitismus, der sogar in staatstragenden Schichten der Monopolpartei Einfluß gewann.

»Diese Welle des "neuen Antisemitismus" erfaßte die Kulturkader und Bildungsinspektoren der russischen Arbeiterklasse und drang bis in die Basis von Komsomol und Partei vor.« (S. 200f.)

Die Gründe? Solschenizyn zitiert ausführlich, fast kommentarlos aus Stellungnahmen von Zeitzeugen. Danach hätten Jewrejew-Bolschewiki den Sowjetstaat erobert und okkupiert, sie stünden an der Spitze der Roten Armee. Sowjetmacht sei in Judenmacht umgewandelt, die Juden würden nicht russische, sondern jüdische Ziele verfolgen (S. 201).

1922 melden die geflüchteten Sozialrevolutionäre E. Kuskowa und S. Maslow, beide Juden:

»Judophobie breitet sich im heutigen Rußland überall aus. Ausbreitung sogar in solchen Gebieten, in denen früher keine Juden gelebt haben und wo die "jüdische Frage" gar nicht existent war. […] Ohne Zweifel wird heute der Bolschewismus mit Judenherrschaft identifiziert.«

Volkstümlich ausgedrückt:

»An die Stelle des Iwan Iwanow tritt heute der Aron Moisejewitsch Tankelewitsch.«

An den Wänden der Hochschulen tauchen neue Kampflosungen auf (berichten Kuskowa und Maslow):

»Bej schidow, spasaj Sowjeti. – Schlag die Juden, rette die Räte.«

Anders ausgedrückt, im Rev-Jargon der damaligen Zeit: Sowjets und Sowjetordnung ohne Juden.

Bej schidow... nicht eine Losung der Schwarzhunderter aus der zaristischen Pogrom-Ära, vielmehr der Schlachtruf russischer Jungkommunarden fünf Jahre nach dem Großen Oktober. (S. 229)

Am Vorabend des XII. Parteitages 1923 bestand das Politbüro aus drei Juden und drei Nichtjuden. Im Komsomol-Präsidium war das Verhältnis drei zu vier. Beim XI. Parteitag hatten Jewrejew-Bolschewiki 26 Prozent der ZK-Mitglieder gestellt. Angesichts dieser Überfremdung beziehungsweise antislawistischen Kaderentwicklung entschlossen sich prominente russische Leninisten zu einem, so Solschenizyn, »gegenjüdischen Umsturz«, russisch »antijewrejski pereworot«. Mai 1924.

Kurz vor Eröffnung des XIII. Parteitages forderten die russischen Altrevolutionäre Frunse, Nogin und Trojanowskij den Rauswurf der »woschdej-jewrejew« (Judenanführer) aus dem Politbüro. Die Feinde der Säuberer reagierten schnell: Nogin verstarb nach einer Speiseröhrenoperation, wenig später kam Frunse unters Messer. (S. 207)

Nach Solschenizyn bestand der Hauptgrund für das Aufbrechen des neuen Antisemitismus im russenfeindlichen Charakter des prononciert jüdischen Internationalismus. Dem Faszinosum eines vom Russentum abgehobenen Internationalismus sei das russische Proletariat nicht erlegen, im Gegensatz zur jüdischen Intelligenzija, die der Revolution von 1918 mit leidenschaftlicher Hingabe begegnet sei. Folgerichtig hätten die Juden nach 1918 von »ihrem Land« gesprochen. (S. 218)

Zur Untermauerung seiner These zitiert Solschenizyn den nach dem letzten Moskauer Schauprozeß hingerichteten Parteiideologen Nikolaj Bucharin, der auf einer Leningrader Parteikonferenz Anfang 1927 den "handelskapitalistischen" Charakter der zur Macht gelangten jüdischen Mittelstands-Bourgeoisie enthüllte, indem er feststellte, Juden hätten in den zentralen Städten der UdSSR den Platz der russischen Bourgeoisie eingenommen. (S. 209) Am neuen Antisemitismus (»den wir, Genossen, schärfstens verurteilen müssen«) seien die Juden selbst schuld, schlußfolgerte der damalige bolschewistische Cheftheoretiker Bucharin.

Es gehörte zum taktischen Spiel des Antisemiten Josif Dschugaschwili, Juden in seiner Entourage nicht nur zu dulden, sondern sie gezielt an leitender Stelle einzusetzen. Und sie dann dem Henker zu übergeben. So ist die mörderische Kollektivierung 1928 bis 1933 mit den Namen prominenter »jewrejew-bolschewiki« verbunden. Als Bauernschlächter, Dorfvernichter verbreiteten sie Schrecken, verantwortlich für den Hungertod von mindestens sechs Millionen Ukrainern. Stalin wußte vom unstillbaren Haß der Stadtjuden auf alles Bäuerliche in den Bauernvölkern der Russen und Ukrainer. Jüdische Entkulakisierungskommissare wären während des Genozids, so Solschenizyn, wie Herren über Leben und Tod aufgetreten. Nach der Bauernabschlachtung »durch jüdisch-bolschewistische Hand« habe 1936 die Todesstunde der Bauernvernichter geschlagen. Zum ersten Mal in einem russischen Geschichtswerk werden ihre Namen genannt: J. Jakowljew-Epstein, M. Kolmanowitsch, G. Roschal, W. Feigin. (S. 285) Die Bücher über die Verbrechen in den ersten zwanzig Jahren nach Lenins Machtergreifung füllen viele Regalmeter, die nachholende Aneignung des slawischen Bauernholocaust hat indes mit diesem Solschenizynband erst begonnen.

Brot und Wissen, Bauch und Hirn

Gründe für den Ausbruch eines proletarischen Antisemitismus gab es noch in zwei weiteren sensiblen Bereichen. Die russische Arbeiterjugend hatte das Nachsehen bei der Aufholjagd an der Bildungsfront. 1926 bestand die Studentenschaft fast zu 26 Prozent aus Juden mit bürgerlichem Stammbaum. (S. 202)

Auf den Chefsesseln im Binnenhandels- und Außenhandelskommissariat saßen im November 1930 größtenteils Juden, zwischen 30 und 50 Prozent. Ihr Reich erstreckte sich auf ländliche wie urbane Ladenketten, Gastronomie, Betriebskantinen, Gefängnis- und Kasernenküchen, Kooperativen, Konsumwarenproduktion. Die Leitung des Staatsplanes (Gosplan) und des Fünfjahresplanes, das Werk der Rosenholz, Ruchimowitsch, Epstein, Frumkin, Selemki, 1930 an den Hebeln der Volksernährung, 1936 das Futter für die Erschießungskorridore der Lubjanka.

Trotz des gigantischen physischen Aderlasses von 1936/37 dienten laut Solschenizyn Millionen von Juden dem stalinistischen Regime, loyal bis begeistert, unerschütterlich, geradezu blind, verschworen der »saschtschita djela sozialisma« – der Verteidigung der Sache des Sozialismus. Und das hieß, so Solschenizyn:

»Kadavergehorsam beim Einsatz in der GPU, der Roten Armee, in der Diplomatie, an der ideologischen Front. Leidenschaftlichste Teilnahme der jüdischen Jugend in diesen Organisationen erlosch selbst nach den blutigen Ereignissen von 1936 - 38 nicht.« (S. 281)

Der Weltgeist, sagt Hegel, bedienst sich der niedrigsten Kreaturen zur Durchsetzung seiner unerforschlichen Absichten. Bei der Durchsetzung des Experiments Sozialismus bediente sich der Weltgeist nicht nur niedriger Kreaturen. Nikolaj Ostrowskij, gelähmt und erblindet, schrieb seinen autobiographischen Roman Wie der Stahl gehärtet wurde als Idealist. Zu den niedrigsten Kreaturen gehörten andere, und Solschenizyn hat sie aufgereiht in den Kapiteln über die bolschewistische Geheimpolizei. (Nicht im Sinne Hegels ist das Ausklammern dieser Blutkapitel in den Buchrezensionen von F.A.Z. und SPIEGEL.)

Gaswagen und Giftstuhl

Von Anfang an befand sich die Geheimpolizei unter der Kontrolle der »jewrej-bolschewiki«. Ihre Biographien enthüllt Solschenizyn im wohl interessantesten Kapital, Überschrift »Die zwanziger Jahre«. Es sind die Biographien von Massenmördern an den Schreibtischen der Tscheka, der OGPU und GPU. Aber nicht nur an Schreibtischen. Die Uritzki, Unschlicht, Katznelson, Bermann, Agranow, Spiegelglas, Schwarz, Asbel, Chaifez, Pauker, Maier, Jagoda nahmen persönlich an Erschießungen teil, am Foltern, Erhängen, Kreuzigen, Verbrennen. Tscheka-Gründer Dserschinski hatte drei Stellvertreter aus dieser Garde der eisernen Bolschewiki: Gerson, Luszki, Jagoda. Eine Elite der »jewrejew-bolschewiki«. Jahre später, beim Bau des Archipel GULag, waren sie abermals an der Front der Vollstrecker zu finden. Den Moskau-Wolga-Kanal vollendete als oberster Sklavenhalter Israel Pliner, beim Zwangsarbeitergenozid am Weißmeerkanal führten Regie Lasar Kogan, Sinowij Katzenelson, Boris Bermann (die Große Säuberung wurde ihr Grab). Solschenizyn auf Seite 293:

»Man kann es nicht leugnen, daß die Geschichte sehr viele Juden zu Vollstreckern des allrussischen Schicksals auserwählt hatte.«

Den Giftstuhl erfand im Auftrag des NKWD der jüdische Hinrichtungskonstrukteur Grigori Mairanowski; als er als ehemaliger Chef des NKWD-Laborinstituts 1951 selbst in der Zelle saß, schrieb er an Berija:

»Bitte vergessen Sie nicht, daß durch meine Hand Hunderte von schweinischen Feinden der Sowjetmacht ihr verdientes Ende fanden.«

Den rollenden Vergasungswagen erfand und erprobte Isaj Davidowitsch Berg, Chef der NKWD-Wirtschaftsabteilung im Bezirk Moskau. 1937, zweiter Höhepunkt der Großen Säuberung; am Fließband wurden Verhaftete zum Tode verurteilt, in Lastwagen gepfercht, zu Erschießungsplätzen gefahren, dann per Genickschuß hingerichtet, dann verscharrt. Ökonomisch eine ineffiziente, zeitraubende, kostenintensive Liquidierungsprozedur, befand Isaj Berg. Also konstruierte er 1937 die fahrende Erstickungskammer, das Vergasungsauto, russisch »duschegubka«. (S. 297) Man verfrachtete die Delinquenten in geschlossene, vollkommen abgedichtete Russki Fords (Benziner). Leitete während der Fahrt die tödlichen Abgase in die Autozelle; am Massengrab kippte man die Leichen in die Grube.

Die schmutzige Revolution III

Die Geschichte dampft Blut. Die Geschichte des Bolschewismus dampft Blut von mindestens 66 Millionen; so nach Berechnungen des Statistikers Prof. I.A. Kurganow, zitiert von Solschenizyn im Nowi Mir-Essay »Die Russische Frage am Ende des Jahrhunderts« (Moskau 1994). Dem Menschheitsverbrechen des bolschewistischen Völkermordes fielen bis 1937, also in den ersten zwanzig Jahren des permanenten Terrors, zwanzig Millionen Menschen zum Opfer.

Bei der wissenschaftlichen Sezierung verzichtet Solschenizyn nicht auf den moralischen Imperfekt, die Einzigartigkeit des bolschewistischen Holocaust mit dem exorzistischen Vernichtungshaß einer ethnisch-religiösen Gruppe im alten Rußland in Verbindung zu bringen. Dies mag ein Grund auch dafür sein, daß die Rezeption des zweiten Bandes der Solschenizynschen Enthüllungen Zweihundert Jahre zusammen aus Totschweigen oder Verfälschung besteht – nicht in Putins Rußland, sondern bei Schröders Medienlinken. (Eine kongeniale Übersetzung ins Deutsche würde eine historiographische Jahrhunderttat bedeuten.)

Schirrmacher und Holm: widerlegt

Motive und Besessenheiten der linksintellektuellen Klasse in Deutschland erinnern an die "Cambridge-Spione" (Philby, Maclean, Blunt, Burgess); in der von BBC verkitschten Story der englischen KGB-Agenten behauptet einer der Décadents:

»Um den Faschismus zu bekämpfen, muß man Kommunist sein.«

In Rezensionen deutscher Feuilletons heißt es im Blick auf die Verbrechen der sowjetischen Geheimpolizei, schließlich hätten die Juden in GPU, NKWD, KGB gegen Hitler gekämpft. »Russen und Juden haben gemeinsam gegen Hitler gekämpft«, schreibt eine Frau Holm im Schirrmacher-Feuilleton. (Folgerichtig sieht mancher Artikel aus wie Nachrichten aus der Sowjetunion.) An anderer Stelle verfälscht die Holm Solschenizyns Interpretation. In der FAZ vom 29. Januar 2003 schreibt sie:

»Den hohen jüdischen Anteil im Personal des jungen Sowjetstaates erklärt der Autor mit der größeren innovativen Unruhe und Tatkraft, die nach dem Oktoberumsturz […] Betätigungsfelder im Staatsdienst, bei den Volkskommissaren und in der Armeespitze fand.«

Das ist aber nicht die Aussage Solschenizyns! Dieser weist anhand der Dokumente nach, daß Lenin drei Gründe hatte, eine umstürzlerisch gestimmte Jugend des säkularisierten Judentums zur neuen Staatselite zu erheben, sie an die Stelle der zaristischen Bürokratie zu setzen. Erstens der tödliche Haß der jungen Juden auf russische Traditionen, Religionsriten, Geschichtsvorbilder, Haß auf alles Russische und das Russentum selbst. Zweitens der Wille zur Überschreitung der letzten Tabugrenzen im Sittlichen. Drittens die Bereitschaft zur physischen Vernichtung des Feindes.

»Mestize unterschiedlichen Blutes«

Dabei war der Internationalist Lenin keineswegs ein Freund des sich selbst verwirklichenden Judentums in Gestalt des Zionismus. 1903 vertrat Lenin die Ansicht, eine jüdische Nationalität gebe es nicht, sie sei die reaktionäre Ausgeburt des sterbenden Kapitalismus. Stalin zählte die Juden zu einer »bumaschnaja nazija«, einer Papier-Nation, die in einer »unausweichlichen« Assimilierung verschwinden würde.

Lenin selbst ist für Solschenizyn ein »Mestize unterschiedlichen Blutes«. (S. 76) Ein Großvater väterlicherseits Abkömmling der asiatischen Kalmücken; der andere Großvater ein Jude aus Wolhynien, Israel Blank, nach dem Übertritt zur russisch-orthodoxen Kirche mit Vornamen Alexander. Die Großmutter väterlicherseits eine Anna Johanna aus deutsch-schwedischem Geblüt, geborene Großschopf. Solschenizyn urteilt:

»Für die Russen war Lenin kein Russenfeind von Anfang an, doch zu bestimmten Zeiten handelte Lenin antirussisch. Für viele Russen erschien Lenin als Ausgeburt einer fremden Rasse. Trotzdem: als Russen können wir uns von Lenin nicht gänzlich lossagen.« (S. 76)

Ein Bestseller in Russland

Im von Literaturgendarmen freien Rußland genießt Solschenizyns Enthüllungswerk den Rang eines Bestsellers. Verkauft kurz nach dem Druck die erste Hunderttausendauflage des zweiten Bandes. Solschenizyns Wort vom »Jahrtausendverbrechen«, heute ein geflügeltes Wort in russischen Feuilletons. Ein Verbrechen mit Folgen bis ins 22. Jahrhundert, denn »niemals zuvor stand Rußland so nahe dem historischen Abgrund, der ihn vom Nichts trennt«, schreibt die Dichterin Natalja Airapetrowa in der Literaturnaja Gaseta (22. Januar 2002). Solschenizyn hat eine Lawine losgetreten. Soeben erschien ein neues Buch des Historikers Nikolai Ostrowskij: Der innere Feind. Genealogie des Bösen (576 Seiten, Feri-Verlag Moskau). Berühmt wurde Ostrowskij durch Heilige Sklaven und Tempel der Schimären – judaismuskritische Abhandlungen, die es nicht erlauben, den Verfasser in die Sackgasse der Verschwörungstheorien zu verbannen.

Im Unterschied zu Rußland zeichnet sich die deutschsprachige Rezeption des zweiten Solschenizyn-Bandes durch Verschweigen oder Verfälschung und in den meisten Fällen durch Russophobie aus. Mit einer Fakten widersprechenden Interpretation rückt der SPIEGEL heraus (7/2003). So ist von einer »Entfremdung« vieler Juden von der Sowjetmacht unter Stalin die Rede, von einer »Reduzierung« jüdischer »Mitarbeiter« in Partei und Geheimpolizei.

Eine zwischen Verniedlichung und Verschleierung schwankende Auslegung entsprechender Sachkapitel in Solschenizyns Buch. Die im SPIEGEL als »Mitarbeit« apostrophierte Mittäterschaft sah in der entscheidenden Phase des Stalinschen Aufstiegs – Mitte der Zwanziger Jahre bis Mitte der Dreißiger – dergestalt aus, daß der jüdische Anteil in Führungsfunktionen des Partei- und Staatsapparates in der Ukraine 22,6 Prozent betrug (in der damaligen ukrainischen Hauptstadt Charkow 30 Prozent), in Weißrußland 30,6 Prozent (in der Hauptstadt Minsk fast 40 Prozent), in Moskau-Stadt ca. 12 Prozent. In den Kaderpositionen der sowjetischen Herrschaftsklassen arbeiteten sechseinhalb mehr Juden als im jüdischen Bevölkerungsanteil, nämlich 1,82 Prozent im Jahre 1926.

»Der größte jüdische Zustrom im Apparat der Sowjetverwaltung fand in den Städten und in den Metropolen der Sowjetrepubliken statt«, belegt Solschenizyn auf Seite 199, und es charakterisiert die Unobjektivität und den Philosemitismus von FAZ und SPIEGEL, die markanten Daten und Zahlenvergleiche des 18. Buchkapitels dem deutschen Leser verweigert zu haben.

Selbst im Säuberungsjahr 1936 sieht man in der sowjetischen Regierung eine Übermacht der »narkom jewrejew« (Solschenizyn): Litwinow-Finkelstein, Jagoda, Rosenholz, Weizer, Kalmanowitsch, Kaganowitsch. In der selben Regierung entdeckt Solschenizyn ganze Stämme stellvertretender Volkskommissare (Minister): Solz, Gamarnik, Gurewitsch, Gingsburg. Einige von Hunderten. Eine Übermacht der »bolschewiki jewrejew« an der Kulturfront, Sektion Gehirnwäsche, Abteilung Neusprech. Jüdische Internationalisten säubern in den zwanziger Jahren die Geschichtsbücher. Ideologische Radikalumerziehung durch Russenhasser wie Goichbarg, Larin, Radek, Rotstein begannen damit, daß Begriffe wie »russische Geschichte«, »Großrussen« verboten, ausgemerzt, auf die rote Liste der konterrevolutionären Terminologie verbannt wurden. In der Moskauer Parteipresse forderten jüdische Schriftsteller die Sprengung des Minin-Poscharski-Denkmals auf dem Roten Platz. (S. 275) Um auf die deutschen Linksmedien zurückzukommen: Die geistige Entrussifizierung durch »bolschewiki jewrejew« in den zwanziger Jahren findet keine Erwähnung, nicht bei Uwe Klußmann und nicht bei Kerstin Holm. (Wie auch die Begriffe »Tscheka« und »GPU« in den Rezensionen nicht auftauchen.)

Die Tscheka, die allererste Lokomotive des Staatsterrors, das Urmodel der Planierraupe für 66 Millionen Skelette, die Gasturbine für den bolschewistischen Holocaust, für Schirrmachers Magazin und Augsteins Nachfolger nicht existent als Todeskürzel. Nur Wahrheitsleugnung oder Scham oder Entblößungsangst, weil man so lange als liberaler Humanist auf der Seite des Stalinschen Humanismus gestanden hat? Auf jeden Fall führen ethische (und physische) Degeneraten das Wort, wenn das in der Menschheitsgeschichte einzigartige Grausamkeitskapitel Tscheka/GPU unter Lorbeeren des Anti-Hitler-Krieges versinkt.

Namenslisten verraten alles

Auf den Seiten 300f. veröffentlicht Solschenizyn die Namen von ca. fünfzig Massenmördern, Schreibtischmördern, Gefangenenmördern. Ihre Vornamen verraten die ethnische Herkunft der Monster. Moise Frumkin, Mordichai Chorosch, Josef Chodorowski, Isaak Solz, Naum Sorkin, Moise Kalmanowitsch, Samuel Agurski, Lasar Aronstam, Israel Weizer, Aron Weinstein, Isaak Grindberg, Scholom Dwoilazki, Max Daitsch, Jesif Dreiser, Samuel Saks, Jona Jakir, Moise Charitonow, Frid Markus, Solomon Kruglikow, Israel Rasgon, Benjamin Swerdlow, Leo Kritzman...

»Wir machen hier und jetzt für immer Schluß mit der Synagoge«, soll im Frühjahr 1939 der neue Außenminister Molotow erklärt haben, als er in seinem Haus mit der Säuberung begann. (Litwinow-Finkelstein rächte sich, indem er 1943 Roosevelt eine persönliche Geheimliste über Stalin Pogrome übergab.) Doch im Vergleich zum sowjetischen Außenministerium fiel der amtliche Pogrom im Innenministerium dramatischer aus. Stellten zwischen dem 1. Januar 1935 und dem 1. Januar 1938 Juden ca. 50 Prozent der NKWD-Kader, so war am 1. Januar 1939 die jüdische Dominanz fast gänzlich verschwunden, zusammengeschmolzen auf ca. sechs Prozent. (S. 295) Solschenizyn schreibt:

»Die Herrscher über das Schicksal des russischen Volkes glaubten wirklich, sie wären unersetzbar und unverwundbar. Um so schrecklicher traf sie der Schlag, sie mußten an den Untergang ihrer Weltanschauung, ja ihrer Welt glauben.«

Auch an dieser Stelle nennt Solschenizyn die Namen der grausamen Schlächter aus den Chefetagen der Geheimpolizei. Sie kamen aus der Lubjanka und endeten in den Korridoren der Lubjanka, die Pistolenbolschewiken Matwej Berman, Josef Blatt, Abraham Belenki, Isaak Schapiro, Serge Schpigelglas, Israel Leblewski, Pinkus Simanowski, Abraham Sluzki, Benjamin Gerson, Sinowi Katznelson, Natan Margolin – eine endlose Liste verdienter »bolschewikow jewrejew«, totgeschwiegen in der Solschenizyn-Rezeption im "Täterland" Deutschland. Salpeter, Seligmann, Kagan, Rappoport, Fridljand, Raiski-Lachmann, Joselewitsch, Failowitsch... Markante Namen in Stalins Erschießungsliste nach 1936. Der nach den USA emigrierte jüdische Menschewik S. Schwarz notiert 1966 in einer Dokumentation des Amerika-jüdischen Arbeiterkomitees:

»Die Säuberungen hatten das physische Verschwinden fast aller "jewrej-kommunistow" zur Folge, die vor 1936 in der UdSSR eine wichtige Rolle gespielt hatten.« (S. 327)

Iwrit oder Jiddisch

Der frühe Stalin glaubte an die totale Assimilierung der Juden mit Hilfe des Dogmas "proletarische Weltrevolution". Im Widerspruch dazu lehnte der Großteil der jüdischen Bolschewiken die Assimilierung, also das Verschwinden als ethnisch gesonderte Gruppe im Sozialismus, strikt ab (zumal sie unter Assimilierung eine tödlich gefürchtete Russifizierung verstanden). Von Anfang an kämpften diese Juden im "Jüdischen Kommissariat" (Jewkom) und in der "Jüdischen Sektion" innerhalb der Russischen Kommunistischen Partei (Jewsek) für die "Erhaltung des Jüdischen Volkes" im sozialistischen Staat, sogar für die Schaffung einer "jüdischen Sowjetnation" in der UdSSR. Die historische Aufarbeitung dieser Vorgänge ist ein Verdienst Solschenizyns, natürlich ohne Reflexe in deutschen Buchrezensionen.

Ein Mittel zur Etablierung einer "jüdischen Sowjetnation" bildete die Forcierung des Jiddischen als "Staatssprache", erstmals 1920 in Weißrußland durch Gesetz anerkannt. Das bedeutete nicht nur ein Nein zum Zionismus, sondern auch zur Verbreitung des (neuhebräischen) Iwrit. Anfang der zwanziger Jahre wurde Iwrit offiziell verboten, dagegen das Jiddische als eine »Sprache der sowjetisch-proletarischen Kultur« anerkannt (S. 255). In Weißrußland galten Marc Chagall und El Lisizki als Avantgardisten einer jiddisch-kommunistischen Kultur – der Neue Mensch aus Witebsk.

Ende der Zwanziger kam der politische Rückschlag – aufgelöst Jewkom und Jewsek. Die junge Generation der sowjetischen Juden hat dies ohne Widerstand hingenommen, berichtet Solschenizyn. Ohne Protest, ohne Rebellion, ohne ein "Kronstadt". Der Abschied vom Jiddischen und vom Jüdischen an sich sei im Triumph eines internationalistischen Atheismus erfolgt, ein Internationalismus ohne Völker, Volkskulturen, Volksidentitäten, mit einer einzigen Ausnahme: »Sowjetski narod« – Sowjetvolk! Ein Kunstprodukt, dem Hekatomben von Proletarierblut geopfert wurden, das Blut von Slawen, Balten, Moslems, Kaukasiern; Sowjetvolk, ein Reißbrettprodukt, ein Frankensteinsches Gespenst, geschaffen im Gulagismus, dessen Existenz ohne Vollstrecker aus den Reihen der »bolschewiki jewrejew« nicht denkbar gewesen wäre, von Alexander Solschenizyn auf fast sechshundert Seiten dokumentarisch nachgewiesen. Als gegen Ende des Krieges Stalin die Liquidierung des "Jüdischen Antifaschistischen Komitees" (JAK) befahl und mit der Ermordung ihrer intellektuellen Führer auch den Untergang des Jiddischen als eigenständige Kultur programmierte, schien die bolschewistische Lösung der alten russischen »jewreiski wopros« (Judenfrage) an einem bizarren Ende angekommen zu sein. An der Rampe des GULag.

Schlusswort

»Unsere Geschichte ist eine Geschichte von Unglücken und Katastrophen«, sagt die Schriftstellerin Swetlana Alixejewitscha dreizehn Jahre nach dem Untergang der Sowjetunion. Vor dreißig Jahren erschien im Westen Solschenizyns Der Archipel GULag. Ein halbes Jahrhundert Glawnoje Uprawlenije Lagerei (Lagerhauptverwaltung) – so lange existierte der GULag – zählt zu den schaurigsten Katastrophen in der zweitausendjährigen russischen Geschichte. Aus heutiger Sicht kann man mit guten Gründen behaupten, daß Solschenizyns Bericht über das blutigste Menschheitsverbrechen der Moderne zu den geistigen Wendepunkten und Kräften gehörte, die den Anfang vom Ende des Roten Imperiums einleiteten.

Solschenizyns Höllenchronik wirft die Frage auf, weshalb heute an die geschichtliche Realität des GULag in der westlichen Öffentlichkeit viel weniger breit und intensiv erinnert wird als an die Judenverfolgung im Nationalsozialismus. Darauf gibt es keine rationale Antwort. Dem Einwand, die Inszenierung des Archipel GULag sei ein Vorgang, der die Vorstellungskraft übersteige und nach den Regeln der klassischen Ästhetik gar nicht in Szene gesetzt werden dürfe, weil von den Bildern nur Ekel und Abscheu bewirkt werden könne, fiele demnach auch Macbeth zum Opfer. In seinem dritten Band schildert Solschenizyn die Abschlachtung von fünftausend Frauen und Kleinkindern im Sklavenlager Kingir im Juni 1954 (nur dreizehn Jahre nach "Babi Jar").

Die Meinung etwa, der GULag sei eben, anders als die Judentötung, noch von keinem Hollywood-Regisseur vom Kaliber eines Steven Spielberg zum Thema gemacht worden, negiert die Tatsache, daß Rußland heute hochtalentierte, ja geniale Filmemacher, Dramaturgen, Drehbuchautoren besitzt, deren künstlerische Qualität keinen westlichen Vergleich zu scheuen braucht. Bei einem Schauspiel von Sergej Kusnezow mit dem Titel Ich werde zurückzahlen hatte das Moskauer Mali-Theater immer wieder ein volles Haus. Nur Stehplätze. Monate hindurch. In diesem Drama werden die letzten Augenblicke der Zarenfamilie nachvollzogen. Für Rußlands Rechtgläubige – aber auch im Urteil der russischen Geschichtsrevisionisten – war Jekaterinburg 16. Juli 1918 die Ejakulation des gulagistischen Denkens. Die Rolle der bolschewistischen Juden wird in diesem Bühnenstück direkt behandelt, indem der Arzt des Zaren, Botkin, zu einem der Kapos sagt:

»Die Zeit wird kommen, da jeder glauben wird, daß Juden für dies verantwortlich waren und sie die Opfer der Rache sein werden.«

Für den Lyriker Stanislav Kunjajew, Chefredakteur der Literaturzeitschrift Nasch Sowremennik, ist die Ermordung der Romanows das Ergebnis einer »menschenfeindlichen Intelligenz und eines satanischen Willens«. Kunjajew gehörte zu einer Gruppe von 70 führenden Intellektuellen Rußlands, die ihre Unterschrift unter einen Brief gesetzt hatten, in dem kommunistische Juden für den Zarenmord, für den bolschewistischen Umsturz und die darauf folgenden Massenmorde verantwortlich gemacht wurden.

Am Fall Kunjajew wird deutlich, warum die filmische Aufarbeitung des Gulagimus in einem westlichen Land (vorläufig) undenkbar ist. Oder anders ausgedrückt: Warum der Jude Steven Spielberg davor zurückschreckt wie Belsazar vor der Flammenschrift an der Wand. Nicht die schiere Größe des Verbrechens versperrt den Spielbergs den Weg zum Film-Kapitel Gulag, es ist vielmehr die tabuisierte Frage nach Mitschuld säkularisierter Juden am singulären Zivilisationsbruch, die die Erschießungskeller von Lefortowo, die Steinbrüche des Weißmeerkanals, die Goldminen von Kolyma möglich machte.

In Deutschland kommt der gefürchtete Antisemitismusvorwurf hinzu, im Land Adornos und Friedmans billig, allgegenwärtig, beruflich und sozial von tödlicher Brisanz, je nachdem wer ihn wann erhebt. Das linksliberale Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen druckte am 26. Juni 2003 eine angeblich verschollene Erzählung des bolschewistischen Schriftstellers Isaak Babel, erschossen im Januar 1941 in einem bolschewistischen Zwangsarbeitslager. Die unbekannte Erzählung Esfirs Ring, ästhetisch wie moralisch ohne Bezug zur russischen Literatur, lobpreist den Tod der jüdischen Geheimpolizistin Esfir Rubenblum, »Kommissar der Sonderabteilung der Kiewer Tscheka«, gestorben »den Heldentod im Kampf mit den Feinden der Revolution«. Original-Zitate des Isaak Babel, niedergeschrieben wenige Jahre vor dem "Heldentod" des Bürgerkriegstschekisten Babel. Dieser angeblich weltberühmte Bolschewik (so die Wertung des Frankfurter Feuilletonchefs Frank Schirrmacher) bestätigt in einem seiner letzten Beiträge die jüdische Führerschaft in den Hinrichtungskommandos der Geheimpolizei während der Lenin-Ära; für Dr. Schirrmacher kein Grund, auf Babels Tscheka-Vergangenheit hinzuweisen.

Eine tödliche Drohung mit der Antisemitismuskeule verhindert in Deutschland eine objektive Diskussion über anthropologische Wurzeln des von Solschenizyn aufgegriffenen Themas. Aus Anlaß der Verleihung der Börne-Preises erklärte der amerikanisch-jüdische Gelehrte George Steiner in seiner Dankesrede:

»Meines Erachtens gab es keine höhere Auszeichnung, keinen höheren Adel, als dem Volk anzugehören, welches nicht gefoltert hat. Beinahe seit meiner Kindheit war ich so stolz darauf, von solch einer Arroganz: Ich gehöre der höchsten Rasse an, weil wir nicht foltern. Wir sind die einzigen. Wir hatten nicht die Macht dazu. Halleluja!« (FAZ, 31. Mai 2003)

Nie gefoltert? Keine Macht?

»So wurde der nicht selten gebrochen russisch sprechende jüdische Kommissar mit Lederjacke und Mauserpistole typisch für das Erscheinungsbild der revolutionären Macht.«

Das Urteil stammt von Sonja Margolina, die sich stolz als die »Tochter eines jüdischen Bolschewisten« bezeichnet. Nachzulesen in Margolinas Buch Das Ende der Lügen. Rußland und die Juden im 20. Jahrhundert (Siedler, Berlin 1992). Die Margolina lebt heute in Berlin. Die eben zitierte Passage schließt mit den Sätzen:

»Die Tragödie des Judentums bestand darin, daß es keine politische Option gab, um der Rache der geschichtlichen Sünde der Juden – ihre exponierte Mitwirkung am kommunistischen Regime – zu entgehen. Der Sieg des Sowjetregimes hatte sie zeitweilig gerettet, die Vergeltung stand noch bevor.«

© 31.10. / 7.11.2002 / 30./31.1.2003/17./30.9.2003